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Titel
Exodus and Its Aftermath. Jewish Refugees in the Wartime Soviet Interior


Autor(en)
Kaganovitch, Albert
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 313 S.
Preis
$ 79.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Hohler, Ludwig-Maximilians-Universität München; Susanne Hohler

Das Schicksal jüdischer Displaced Persons, die den Holocaust in der Sowjetunion überlebt haben, wurde lange Zeit von der Forschung vernachlässigt und findet erst in jüngster Zeit vermehrt Beachtung.1 Albert Kaganovitchs „Exodus and its Aftermath: Jewish Refugees in the Wartime Soviet Interior“, das sich insbesondere mit den jüdischen Flüchtlingen in Zentralasien befasst, reiht sich hier ein. In seinem Buch möchte Kaganovitch ein möglichst vollständiges Bild der Geschichte der jüdischen Flüchtlinge in der Sowjetunion zeichnen und damit den Mythos von der selbstlosen und erfolgreichen Versorgung der Flüchtlinge und dem Zusammenhalt der gesamten sowjetischen Gesellschaft während des Krieges widerlegen, der laut Kaganovitch bis heute in der russischen Geschichtsschreibung gepflegt werde.

Ausgehend von der oft chaotischen Flucht und der zu spät einsetzenden staatlich organisierten Evakuierung schildert Kaganovitch in acht Kapiteln detailliert und quellengesättigt das Schicksal der Flüchtlinge. Ein zentrales Thema ist dabei die katastrophale Wohnsituation und die oft sehr mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen des Alltags, insbesondere Schuhen, die durch Diebstahl und Korruption noch verschärft wurde. Hunger, Krankheiten und Seuchen führten insbesondere im Jahr 1942 zu einer hohen Sterblichkeit unter den Flüchtlingen, von denen schätzungsweise 25 Prozent starben.

Das zweite zentrale und damit eng verbundene Thema ist die Ablehnung der Flüchtlinge durch die einheimische Bevölkerung. Kaganovitch führt diese vor allem auf die Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Milieus zurück, aus denen die meisten Flüchtlinge stammten. Juden seien aufgrund des Antisemitismus unter slawischen Flüchtlingen, Muslimen und russischen Kriegsinvaliden (die jüdischen Männern Drückebergerei vorwarfen) besonderen Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Wie Kaganovitch zeigt, standen auch die unteren Ebenen der Kommunalverwaltung den Flüchtlingen oft ablehnend gegenüber. Hier war die Situation der jüdischen Flüchtlinge besonders schwierig, da der Antisemitismus auf den unteren lokalen Verwaltungsebenen weitaus verbreiteter und virulenter gewesen sei als auf den höheren Ebenen. So soll ein städtischer Angestellter in Ufa einer jüdischen Kriegswitwe eine bessere Unterbringung mit Hinweis auf ihre Herkunft verweigert haben (S. 173).

Im Gegensatz zu anderen Autor:innen ordnet Kaganovitch die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge in die Gesamtgeschichte der Flüchtlinge in Zentralasien ein. So schreibt er in seiner Einleitung, sein Ziel sei es, “to show the struggle for survival of refugees (among them Jews)“ (S. 9). Anders als der Titel suggeriert, befasst sich das Buch also über weite Strecken nicht dezidiert mit jüdischen Flüchtlingen, auch wenn immer wieder deren Besonderheiten thematisiert werden. Auch unterscheidet Kaganovitch in der Regel nicht zwischen polnischen, rumänischen, baltischen und sowjetischen Juden, obwohl sich der rechtliche Status und die Herausforderungen, mit denen die verschiedenen Gruppen konfrontiert waren, unterschieden. Daher bleibt manchmal unklar, auf welche Gruppe er sich bezieht.

Das Buch stützt sich auf eine sehr breite Quellenbasis von amtlichen Statistiken und Berichten, Briefen, Literatur, Memoiren und Interviews, die zu einem großen Teil aus den Beständen des United Holocaust Memorial Museum Archives in Washington DC und des Yad Vashem Archive in Jerusalem stammen. Insbesondere die Verwendung von Behördendokumenten unterscheidet das Buch von anderen Arbeiten, etwa denen von Eliyana Adler und Markus Nesselrodt. Die sehr kritische Auseinandersetzung Kaganovitchs mit diesen offiziellen sowjetischen Quellen ist sicherlich gerechtfertigt, wie vielleicht auch der Vorwurf an andere Autor:innen, diese allzu oft unkritisch übernommen zu haben (siehe z.B. S. 7 und S. 9), doch lässt er selbst häufig eine kritische Reflexion der verwendeten Quellen vermissen. Dies gilt insbesondere für die oft zitierten Memoiren und Interviews. Deren Aussagekraft wird nur an einer Stelle thematisiert, wo Kaganovitch auf lediglich zwei Seiten über positive Erinnerungen jüdischer Geflüchteter schreibt, die er als „Kindheitsnostalgie“ und Selbstzensur abtut (S. 171f.). Aussagen in Memoiren und Interviews, die Kaganovitchs These vom falschen Mythos stützen, werden hingegen nicht kritisch hinterfragt oder eingeordnet, sondern unreflektiert übernommen.

Insgesamt arbeitet Kaganovitch mit einer beeindruckenden Fülle von Einzelbeispielen und kann so die schwierige Situation der Flüchtlinge sehr eindringlich darstellen. Allerdings ist es daher stellenweise schwierig, seiner Argumentation zu folgen. Schlussfolgerungen, die Kaganovitch aus den Einzelfällen zieht, sind teilweise sehr verallgemeinernd beziehungsweise nicht immer überzeugend. So zieht er aus einer antisemitischen Bemerkung in einem Bericht des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei von Belarus, Pantelejmon Ponomarenko, in dem dieser den mangelnden Einsatz städtischer Milizen auf den hohen Anteil von Juden und Jüdinnen in den Städten zurückführt, den Schluss, Ponomarenko habe die Absicht gehabt, „to force Jewish children, women and elderly people to fight against the Wehrmacht“ (S. 19f.). Ähnliches gilt für einige Behauptungen, die nicht belegt werden. So schreibt Kaganovitch ohne Beleg, dass einheimische Frauen besonders feindselig gegenüber Flüchtlingsfrauen gewesen seien, weil diese aufgrund ihres besseren Aussehens für einheimische Männer attraktiver gewesen seien (S. 144), oder dass die Einladung von Flüchtlingen durch Einheimische, bei ihnen zu wohnen, „should only be considered as an attempt to prevent the forcible placement of unwanted refugees“ (S. 57).

Insgesamt beleuchtet Albert Kaganovitch viele interessante Aspekte, wie das Verhältnis der verschiedenen jüdischen Gruppen untereinander und das Erstarken einer jüdischen Identität und Religiosität oder die Bedeutung von Gärten für das Überleben der Flüchtlinge. So gelingt es ihm, einen umfassenden Einblick in das Schicksal der (jüdischen) Flüchtlinge zu geben und damit den Mythos von der selbstlosen Hilfe und erfolgreichen Versorgung durch die lokale Gesellschaft zu entkräften. Allerdings führt gerade dieses Ziel der Entmythisierung zu einer stellenweise recht einseitigen Darstellung. Angesichts der durch den Krieg bedingten, unübersichtlichen Situation für Flüchtlinge vor Ort hätte man sich eine ausgewogenere Herangehensweise an das Thema gewünscht.

Anmerkung:
1 Mark Edele / Sheila Fitzpatrick / Atina Grossmann (Hrsg.), Shelter from the Holocaust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union, Detroit 2017; Markus Nesselrodt, Dem Holocaust entkommen. Erfahrungen polnischer Jüdinnen und Juden in der Sowjetunion (1939–1946), Berlin 2019; Elyiana Adler, Survival on the Margins? Polish Jewish Refugees in the Wartime Soviet Union, Cambridge 2020.